Orthese statt Rollstuhl bei einer Querschnittlähmung
Die Querschnittlähmung, auch Paraplegie genannt, gehört ebenso wie Spina bifida (Myelomeningozele) zu den Rückenmarkläsionen. In beiden Fällen liegt eine mechanische Verletzung des Rückenmark-Querschnittes vor. Doch während Spina bifida angeboren ist, wird eine Querschnittlähmung durch Unfälle oder anderweitig verursacht. Das im Wirbelkanal verlaufende Nervengewebe ist durch die Verletzung ganz oder teilweise unterbrochen, was eine Lähmung der mit den Nerven verbundenen Muskeln oder Organe zur Folge hat. Welche Körperfunktionen dabei konkret ausfallen, ist von der Höhe abhängig, bei der dieser Querschnitt noch vollständig intakt ist.
Bei einer Querschnittlähmung sind meist die Beine betroffen. Die therapiebegleitende Versorgung mit einem Hilfsmittel sollte möglichst frühzeitig erfolgen. Die Diagnose Querschnittlähmung muss nicht zwangsweise bedeuten, dass ein Patient auf einen Rollstuhl angewiesen ist. Abhängig davon, welche Muskelgruppen noch funktionsfähig sind, kann mit einer Orthese ein eigenständiges Gehen erzielt werden. Hierzu muss der Orthopädietechniker eine ausführliche Patientenbefundung durchführen und mit den ermittelten Patientendaten die benötigte Orthese konfigurieren.
Bei welcher Läsionshöhe ist die Versorgung mit einer Orthese sinnvoll?
Die Läsionshöhe (Höhe der Lähmung) bedingt die Wahl des Hilfsmittels. Durch die im Rahmen der ASIA-Klassifizierung ermittelte neurologische Höhe kann eine eindeutige Aussage darüber getroffen werden, welche Muskeln noch von den zugehörigen Nerven angesteuert werden. (Mehr Informationen zur ASIA-Klassifizierung finden Sie im Bereich „Allgemeines zum Thema Querschnittlähmung“.) Generell kann man davon ausgehen, dass Patienten mit lumbalen und sakralen Läsionen (von T12 abwärts) von einer Orthese profitieren. Je höher die Läsion angesiedelt ist, desto stärker sind die Beinmuskeln von der Lähmung betroffen und desto mehr Stabilität muss die Orthese gewährleisten. Bei Patienten mit inkompletten Querschnittlähmungen können Orthesen sogar für Läsionshöhen oberhalb von T12 geeignet sein.
Wann beginnt das Training mit der Orthese?
Die Versorgung mit einer Orthese sollte in der sogenannten Intermediärphase (2–26 Wochen nach dem Vorfall) stattfinden. In dieser Phase dient die Orthese dem Patienten auch als Hilfsmittel für ein eigenständiges oder unterstütztes Aufrichten aus dem Patientenbett und erste Stehversuche. Ein unterstütztes und dynamisches Stehen ist eine wichtige Grundvoraussetzung für die spätere Gehschulung. Im Rahmen der Physiotherapie sollten Übungen zum Stehen und Gehen mit der Orthese ab der Intermediärphase in das Gehtraining integriert werden.
Versorgungskonzept: Orthese nach einer Querschnittlähmung
In unserem „Handbuch zu Rückenmarkläsionen – Die Beurteilung der orthetischen Versorgbarkeit der unteren Extremität nach einer Querschnittlähmung“ finden Sie ein detailliertes Konzept einer Versorgung mit einer Orthese nach einer Querschnittlähmung.
Das Handbuch zu Rückenmarkläsionen können Sie hier kostenlos herunterladen. Auf Wunsch schicken wir Ihnen gerne eine Printausgabe zu. Wenden Sie sich diesbezüglich an unseren Verkauf im Innendienst unter info(at)fior-gentz.de oder +49 4131 24445-0.
Eine Übersicht über die verschiedenen Systemgelenke im Knie- und Knöchelbereich finden Sie hier. Die wichtigsten Funktionen des jeweiligen Systemgelenkes werden in der dazugehörigen Produktbeschreibung erläutert.
In unseren Anwendergeschichten und Patientenvideos lernen Sie Patienten kennen, die bereits mit einer Orthese versorgt sind. Den Bereich zu Patienten mit Querschnittlähmung finden Sie hier.
Allgemeines zum Thema Querschnittlähmung
Welche Körperteile sind von einer Querschnittlähmung betroffen?
Rückenmarkläsionen werden unter anderem in komplette und inkomplette Querschnittlähmungen unterteilt. Sie treten als Paraplegie (nur die Beine sind betroffen) oder Tetraplegie (beide Arme und beide Beine sind betroffen) in Erscheinung.
Was sind die Ursachen für eine Querschnittlähmung?
Grob kann man die Ursachen für Querschnittlähmungen in traumatische (Unfälle) und nichttraumatische Ursachen unterteilen. Während bei jungen Menschen die traumatischen Ursachen überwiegen, nehmen mit steigendem Lebensalter die nichttraumatischen Ursachen zu.
Zu den traumatischen Ursachen zählen alle Arten von Unfällen (z. B. Verkehrs-, Arbeits- und Sportunfälle) sowie Stürze und die Auswirkungen von Gewalt durch Fremde oder die eigene Person (Suizidversuche). Bei den nichttraumatischen Ursachen können beispielsweise angeborene Fehlbildungen, Tumoren, Infektionen, Entzündungen oder Vergiftungen zu einer Querschnittlähmung führen.
Sind die betroffenen Körperfunktionen unwiederbringlich verloren?
Umbauprozesse nach dem Unfall: Die Zeit unmittelbar nach dem Unfall ist geprägt von unzähligen biologischen Umbauprozessen im betroffenen Bereich der Wirbelsäule. Im Rahmen dieser Umbauprozesse kann es noch bis zu einem Jahr nach dem Unfall zu einer spontanen Verbesserung der geschädigten Körperfunktionen kommen.
Startzeitpunkt der Neurorehabilitation: Der Körper besitzt das Vermögen, neue Nervenverknüpfungen durch motorische Impulse auszubilden. So kann in der Phase der oben beschriebenen Umbauprozesse durch eine angemessene Neurorehabilitation ein Wachstum des Rückenmarks ausgelöst werden. Wichtig ist allerdings, dass die Therapie möglichst frühzeitig beginnt, um von diesen Umbauprozessen zu profitieren.
Art der Querschnittlähmung: Es spielt eine große Rolle, ob der Patient an einer kompletten oder einer inkompletten Querschnittlähmung leidet. Insbesondere bei inkompletten Querschnittlähmungen liegt eine gute Prognose zur Verbesserung der geschädigten Körperfunktionen vor. Des Weiteren wird diese Prognose durch einen frühzeitigen Therapiebeginn positiv beeinflusst. Bei kompletten Querschnittlähmungen ist die Prognose dahingehend eher schlecht, auch wenn es immer wieder zu geringen Verbesserungen kommen kann.
Was ist die ASIA-Klassifizierung?
Einen Begriff, den man im Zusammenhang mit Rückenmarkläsionen häufig hört, ist die ASIA-Klassifizierung, genauer gesagt, die ASIA Impairment Scale (AIS). ASIA ist die Abkürzung für American Spinal Injury Association und bezeichnet die nordamerikanische Gesellschaft für die Versorgung, Ausbildung und Forschung im Bereich Querschnittlähmung.
Die AIS beschreibt ein strukturiertes Vorgehen zur Ermittlung von Höhe und Ausmaß der Schädigung: Im ersten Schritt erfolgt die Bestimmung der Läsionshöhe durch Ermittlung des Wirbelsäulensegmentes, bei dem weder motorische noch sensible Ausfälle vorliegen (die sogenannte neurologische Höhe). Dazu wird die motorische Höhe über den Kraftgrad festgelegter Kennmuskeln und die sensible Höhe an definierten Schlüsselpunkten der Haut (an sogenannten Dermatomen) mittels leichter Berührung sowie eines Pinprick-Tests ermittelt. Die Empfindungen an diesen Schlüsselpunkten geben Aufschluss über die spinale Höhe der sensiblen Versorgung. Nach AIS werden Rückenmarkverletzungen entsprechend ihrer Höhe in vier Bereiche eingeteilt:
- zervikale Läsionen (C1–C8): Läsion auf Höhe der Halswirbelsäule
- thorakale Läsionen (T1–T12): Läsion auf Höhe der Brustwirbelsäule
- lumbale Läsionen (L1–L5): Läsion auf Höhe der Lendenwirbelsäule
- sakrale Läsionen (S1–S5): Läsion auf Höhe des Kreuzbeines
Im nächsten Schritt wird nach einem bestimmten Auswertungsschlüssel beurteilt, ob es sich um eine komplette (ASIA A) oder eine inkomplette Querschnittlähmung (ASIA B–D) handelt:
A = Komplett: Keine sensible oder motorische Funktion ist in den sakralen Segmenten S4–S5 erhalten.
B = Inkomplett: Sensible, aber keine motorische Funktion ist unterhalb der neurologischen Höhe erhalten und schließt die sakralen Segmente S4/S5 ein.
C = Inkomplett: Motorische Funktion ist unterhalb der neurologischen Höhe erhalten und die Mehrheit der Kennmuskeln hat einen Kraftgrad von weniger als 3 (nach Janda).
D = Inkomplett: Motorische Funktion ist unterhalb der neurologischen Höhe erhalten und die Mehrheit der Kennmuskeln hat einen Kraftgrad größer oder gleich 3 (nach Janda).
E = Normal: Sensible und motorische Funktionen sind normal.